Aus der „Schweizer Musiker Revue“, 1944 (Heute Alpenrosen)

Treten Sie nur ein, meine geschätzten Leser. Aufgeräumt ist zwar noch nicht, und abgewaschen auch noch nicht, das Bett liegt noch offen und die leeren Likörgläser vom gestrigen Besuch stehen auch noch da. Aber wenn Sie nicht kleinlich sind, dann hat das ja nichts zu bedeuten.
Sie wollen mich also besuchen, um zu sehen, wie ein Schlagerkomponist lebt, und was er so den ganzen Tag tut.
Hier liegt der offene Band „Gertrud“ von Hermann Hesse, den ich schluckweise, wie Medizin einnehme. Ja, ich lese gern und viel, denn die Ideen eines andern Menschen regen an und verhüten einseitiges Denken. Als Schlagerkomponist muss man sehr vielseitig sein, man muss rasch denken und sehr aufnahmefähig sein. Die Augen muss man offen halten, wo man geht und steht. Aber auch die Ohren, die man so viel wie möglich putzen muss. Nichts darf einem entgehen, was irgendwie zur Bearbeitung interessant wäre. Ein neues Schlagwort, ein geeignetes Wort auf einem Reklameschild. Ja oft der Pfiff eines Vogels kann anregend sein, und Ursache werden für eine neue Komposition.

Ob ich früh aufstehe, fragen Sie? Meistens ja, denn am Morgen arbeiten ist leichter. Es gibt aber auch Tage, an denen erst abends die guten Ideen kommen. „Am Himmel stoht es Sternli“ ist nachts entstanden. Sie wundern sich, dass ich als Junggeselle eine ganze Wohnung bewohne, und Sie haben fast Mühe, dass Ihre Augen alles darin erblicken können. Ja sehen Sie, ich bin Liebhaber von alten Sachen. Ich brauche diese alte, heimelige Atmosphäre, um darin arbeiten zu können. Ich hasse alles Neue an Möbeln, und ich friere in einer modern eingerichteten Wohnung. Auch exotische Gegenstände gehören zu meinem Sammeleifer. Natürlich gibt das viel mehr Arbeit zum Abstauben! Aber dazu ist man wieder zu sehr Künstler, als dass man sich vom Staub das Lehen verdrießen ließe.
Ich arbeite meist, bevor ich morgens frühstücke. Leider wird dazu schon geraucht, was mich kürzlich auf den Schlager brachte: „Ringli stieget id‘ Luft“ – das Tubakpfifeliedli.
Stunden und Stunden sitzt man oft am Flügel und probiert und improvisiert, bis dann vielleicht das Gewünschte entsteht. Manchmal aber steht man auf, ohne irgendetwas Positives auf dem Papier zu haben. Das kann oft wochenlang so gehen. Man hat vielleicht vieles aufgeschrieben, aber es steht nicht über dem Durchschnitt. Und ich hasse nichts, wie Durchschnitt und Dilettantismus. Nur das Beste verdient es, nicht in den Papierkorb zu wandern.

Es läutet Mittag, die Zeit, wo der Magen zu knurren beginnt. Rasch einkaufen, rasch kochen. Das ist immer eine kleine Abwechslung. Denn den ganzen Tag kann man ja nicht am Klavier sitzen. Aber nach dem Essen geht’s wieder an die Arbeit. Texte müssen geschrieben werden, zu den entstandenen Melodien. Melodien müssen in andere Tonarten umgeschrieben werden. Das Volk will ja möglichst einfache Tonarten, und die Melodien entstehen meist in
einer andern, schwereren. als sie dann im Druck erscheinen.

Viel Zeit nehmen einem die Besuche weg. Auf der andern Seite sind sie aber oft erwünschte Abwechslung. Man spielt die letzten Platten, man singt die neuesten Lieder und man raucht dazu eine seltene Zigarettenmarke. Wie Sie sehen bin ich Liebhaber von Stella Filtra und Türkisch. Man macht einen netten Spaziergang in die herbe Berglandschaft, und Einsiedeln hat ja deren viele.
Ob ich immer hier im Dorfe wohne, fragen Sie? Ich wurde hier geboren und verlebte meine ganze Jugend hier, bis ich als Student auf die Universität ging. Jede Woche fahre ich einmal in die Stadt. Man darf den Kontakt mit der „großen Welt“ nicht verlieren. Und Sie wissen vielleicht, dass ich nicht bloß Komponist des Trios Schmid bin, sondern auch ihr Pianist. Als solcher muss ich mit auf die vielen Tourneen. Das ist sehr kurzweilig und bringt mir den Kontakt mit den Menschen. Wie viel lernt man da immer wieder. Man sieht, was sie gerne haben wollen, man erlebt ihre Freude, und man korrigiert an all dem seine eigenen Fehler.

Im Herbst werde ich mein eigenes Haus in Zollikon beziehen, das ich mir nach Wunsch und Maß bauen ließ. Denn seit meine Mutter, mein bester Freund im Leben, tot ist, habe ich hier nichts mehr verloren. Im Gegenteil, der Ort hat zu viele Erinnerungen, als dass ich hier noch lange froh leben könnte.

Sie sehen, auch ein Schlagerkomponist hat seine kleinen und großen Sorgen, und nicht bloß den ganzen Tag Tingeltangel-Musik, wie viele glauben.
Und jetzt gehen wir noch in den Garten. Das ist eben meine liebste Nebenbeschäftigung. Blumen sind meine besten Freunde, und ich kann sie nicht genug bewundern. Wie könnte man überhaupt die Musik lieben und dabei die Blumen nicht? Auch Tiere habe ich sehr gerne. Leider kann ich hier ausser dem Büsi kein Haustier halten, da ich zuviel fort bin. ..
Ich sammle leidenschaftlich alle Artikel, die über mich und meine Sänger geschrieben werden. Wie Sie sehen, habe ich schon eine große Anzahl davon. Es muss später interessant sein, zurückblicken zu können auf den nicht immer leichten Weg zum Erfolg.
Und hier auf der Veranda, hier ist mein Lieblingsplatz, wo ich viel arbeite. Hier hin ich ganz für mich, von niemanden gesehen, von niemanden gestört. Sehen Sie im großen Vogelbeerbaum den Starenkasten! Den habe ich selber gemacht, und darin nisten jedes Jahr die herrschaftlichsten Staren, denen ich so gerne zusehe. Ja, stundenlang beobachte ich sie, und horche ihrem frohen Lied. Und dann halt‘ ich immer den Bleistift in der Hand und möchte etwas davon niederschreiben. Das sind dann Feierstunden des Tages, fern von allem Lärm, fern von Proben und Schallplattenaufnahmen.
Der Abend im Dorf ist still, und die meisten Melodien, die Sie von mir kennen, sind am Abend entstanden. Die Zeit des Dunkelns hat etwas Dichterisches in sich, was ich sehr gern habe. Erinnerungen werden wach, und wollen Form annehmen. Wünsche erfüllen; das Herz und Sehnsucht nach den fernen Ufern des Lebens. Kennen Sie – „S‘ wird wieder Abig i mim chline Dörfli“ – das bei Helbling erschien? Darin ist diese Stimmung sehr gut niedergelegt. Leider haben oft .gerade diese zarten Lieder einen viel schwereren Weg, und
werden nicht so populär, wie die lauten, lustigen Melodien. Und doch liegt gerade in ihnen Wesentliches des Menschen und Künstlers.
Und jetzt kommt noch die Zeit des Lesens. Der Tag macht müde. Man ist nicht mehr fähig eigene Sachen zu produzieren. Aber man ist doch nicht zu müde, um noch etwas zu lesen. Ich vertiefe mich sehr gerne in gute Gedichthände. Sie sind so reich an Gedanken und Ideen. Außer meinen paar Lieblingsdichtern, zu denen Hermann Hesse, Heinrich Federer, Hermann Löns, Theodor Strom, Oskar Wilde, Ines Loos, Isabella Kaiser, Stefan Zweig, Meinrad Lienert, u. a. gehören, lese ich gerne Fachliteratur jeglicher Art. Wie sie sehen, stehen
rings um mein Bett lauter Bücher mit bekannten Namen. Wenn ich allein bin, habe ich immer das Gefühl, dass doch noch jemand um mich ist, und das beruhigt.
Manchmal kommt auch abends Besuch, und der Tag klingt in froher Geselligkeit aus. Und wird oft das Bett auch erst vor dem Schlafengehen gemacht, es ruht sich darin doch aus, wie in einem königlichen Himmelbett. Dann lege ich noch eine Weile mein Buch weg, schau mich vom Bett aus im Zimmer um. Und dann genieße ich all den vielen Krimskrams, was einer Hausfrau auf die Nerven gehen müsste, weil man es abstauben muss. Dann streift mein Blick nochmals die vielen schönen Gemälde meines Vaters, die er mir als schönste Erinnerung an ihn zurückgelassen hat. Dann lächelt mir der dicke Buddha zu, als wollte er sagen, warum sich ärgern über diese kleinen Dinge der Welt, alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Dann gibt die chinesische Lampe ein eigenartiges Licht in den überfüllten Raum, als wäre die Welt um mich nicht Wirklichkeit sondern Traum.
Und nun, lieber Leser, muss ich Sie verabschieden. Der Briefträger hat Post gebracht und darin steht: „Kommen Sie bitte zu einer Besprechung heute Mittag 4 ½ Uhr bei uns vorbei, Hochachtungsvoll grüßt Sie Musikvertrieb A.G., Schallplatten, Zürich“.
Aber vielleicht kommen Sie ein andermal zu mir auf Besuch. Mein Haus steht Ihnen jederzeit offen. Auf Wiedersehen!

Artur Beul.